Sächsilüüte

Seit Jahrhunderten heisst die Frühlingsfeier der Zünfte “Sechseläuten”, weil früher ab Frühlingsbeginn die Feierabendglocke am Grossmünster abends um 18 Uhr den Arbeitsschluss verkündete.

Im Winterhalbjahr wurde der frühen Dämmerung wegen nur bis 17 Uhr gearbeitet. Dieses froh erwartete Ereignis, der Wechsel vom trüben Winterhalbjahr zur hellen Jahreshälfte, feierten die Zünfter bei Speis, Trank und Reden, sowie gegenseitigen Besuchen auf ihren Zunftstuben.

Die beiden Umzüge, der Zug der Zünfte zum Feuer am Montag und der Kinderumzug am Sonntag entwickelten sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre heutige Form entstand im Laufe der letzten 100 Jahre. Das Verbrennen des “Böögg”, so heisst der weisse, einem Schneemann gleichende Strohmann, der öffentlich als symbolische Wintervertreibung verbrannt wird, wurde vom einst weit verbreiteten heidnischen Frühlings-Feuerbrauch übernommen.

 

Das Sächsilüüte als "gewerbepolizeiliche" Massnahme

Ulrich Zwingli

Kirchliche Verordnungen und obrigkeitliche Mandate liessen dem mittelalterlichen Zürcher in der Gestaltung seines täglichen Lebens wenig Spielraum. Unzählige Sittenmandate und Bekleidungsvorschriften zeugen von der unerbittlichen Strenge jener Zeit: "Ess- und Trinkgewohnheiten" waren dermassen reglementiert, dass selbst Zwingli sich mit einem Buch "Von fryheit der spysen" dagegen auflehnte. Die sogenannten Horen, die sieben Stundengebete der Geistlichkeit, teilten den Tagesablauf ein, von der Matutin am Morgen, Prim, Terz, Sext, Non und Vesper bis zur Komplet am Abend. Die Glocken der Bettelmönchsklöster (Franziskaner oder Barfüsser, Dominikaner oder Prediger, Augustiner) und wohl auch der Nonnenklöster (Oetenbach, Fraumünster) riefen mit ihrem Schlag zum Essen nach der Morgenmesse (Musglocke), zur Arbeit (Werchglocke), zum Schliessen der Stadttore (Torglocke) usw. Die Läutordnung allein des Grossmünsters führte schon 1346 acht Glocken auf. Vom St. Peter ist die "Strübglocke" überliefert, vom Fraumünster die "Nachtglocke"; beide mahnten zum Verlassen der Trinkstuben.

Die Zunftordnung regelt ab 1336 das Berufsleben

Die Zunftordnung bestimmten die Länge der Lehr-, Gesellen- und Wanderjahre. Sie legt die Bedingungen für den Erwerb des Meisterrechts fest, und sie enthielt Vorschriften für das Verhalten und Benehmen von Meistern, Gesellen und Lehrlingen. Sie bestimmten aber auch die Arbeitszeit: diese dauerte im Sommer von 4 oder 5 Uhr morgens bis zum Läuten der Feierabendglocke um 6 Uhr abends. Dieser 12 bis 14 Stunden dauernde Arbeitstag, unterbrochen von drei Ruhepausen für das Morgenbrot, den Imbiss und das Abendbrot, wurde im Winter auf den "Lichttag" verkürzt. Er begann, "sobald der tag angadt", und fand bei einbrechender Dunkelheit sein natürliches Ende.

Denn nicht nur die Gassen und Höfe waren eng und bis ins 19. Jahrundert hinein unbeleuchtet, auch die Wohn- und Arbeitsräume waren zumeist klein, kaum heizbar und schlecht beleuchtet. Die damals noch mit Oeltuch und Pergament bespannten Fensterrahmen erhielten erst um die Mitte des 16. Jahrunderts Glasfüllungen.

Kienspäne, Oellampen und Talgkerzen mussten als kümmerliche Lichtquellen dienen. Sie ermöglichten nur wenigen Berufen, so etwa den Kannengiessern, ein Weiterarbeiten bis in die Nacht hinein; für alle andern ging im Winterhalbjahr die Arbeit bei Beginn der Dämmerung zu Ende.

Doch zurück zum "Sechs-Uhr-Läuten" als Zeichen für den Arbeitsschluss im Sommer. Wann genau es eingeführt wurde, ist heute nicht mehr festzustellen, doch dürfte man kaum fehlgehen, wenn man den mutmasslichen Beginn ins 14. Jahrhundert legt. Als Folge der unter Huldrych Zwingli von Zürich ausgehenden Reformation wurden 1524 die Klöster aufgehoben. Damit verstummten ihre Glocken. Es bedurfte nun eines Ratsbeschlusses, um das Feierabendläuten neu zu regeln. Dieses Mandat vom 11. März 1525 ist uns erhalten als das älteste bisher gefundene Zeugnis über das Sechsuhrläuten.

Dass nach dem Winterhalbjahr die Wiederaufnahme des Sechsuhrläutens damals ausgerechnet auf den Tag der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche gelegt wurde - 11. März nach dem früheren Julianischen, 21. März nach dem heutigen Gregorianischen Kalender - zeigt einmal mehr, wie sehr selbst der mittelalterliche Mensch noch vom Wechsel der Jahreszeiten abhängig war. Später wählte man, wohl aus rein praktischen Gründen, den ersten Montag danach, den ersten Arbeitstag der Woche also, und bei diesem Tag ist es geblieben.

Erst viel später, als das Sächsilüüte sich zu einem richtigen Volksfest entwickelt hatte und damit das Wetter zu einem massgeblichen Faktor geworden war, verlegte man 1842 den Montag "wegen des Sauwetters" erstmals in die zweite Hälfte des Aprils.

Wen wundert's, dass nach jedem Winter der Frühling herbeigesehnt wurde, der mehr Wärme, mehr Licht und mehr Verdienst versprach, und dass der Tag, an dem das Arbeitsende erstmals wieder mit dem "Sechs-Uhr-Läuten" angezeigt wurde, Grund zu besonderer Freude bot. Grund genug, um sich auf den Zunftstuben zu einem Trunk zusammenzufinden.

Ein Freudentag

Das Sächsilüüte ist in mancher Hinsicht ein Freudenfest. Zürich verabschiedet sich von den langen, kalten Winternächten und freut sich auf die wärmeren Jahreszeiten. Ihr Frühlingsfest begeht die Limmatstadt meist während des dritten Aprilwochenendes mit einem farbenprächtigen Kinderumzug am Sonntag und dem eigentlichen Sächsilüüte-Umzug am Montag. Höhepunkt ist die symbolische Verbrennung des Winters in der Gestalt eines Schneemanns – des Bööggs. Tausende von kostümierten Zünftern und Zehntausende von Zuschauerinnen und Zuschauern bevölkern am Sechseläutenwochenende die Stadt Zürich. Hunderttausende in der ganzen Schweiz verfolgen den montäglichen Umzug und das Verbrennen des Bööggs im Fernsehen – denn seit einigen Jahren wird die Zeitspanne, die vom Anzünden des Feuers bis zur Explosion des Bööggenkopfs vergeht, als Gradmesser für die Wetterentwicklung des darauf folgenden Sommers genommen. Höhepunkte der Festivitäten am Sechseläutenwochenende im April sind der Zug der Zünfte zum Feuer und die gegenseitigen Zunftbesuche am Abend.

Platz der Kantone

Das «Zentralkomitee der Zünfte Zürichs» lädt seit 1991 jedes Jahr einen Kanton als Gast an das Sechseläuten-Wochenende nach Zürich ein. Er präsentiert sich auf dem Lindenhof mit einer Ausstellung, einem bunten Unterhaltungsprogramm und kulinarischen Spezialitäten.

Bunte Vorgeschichte

Verglichen mit der Geschichte des Zunftwesens ist der Kinderumzug vergleichsweise jung: Der erste Kinderumzug oder, genauer gesagt, der erste Knabenumzug fand im Jahr 1862 statt. Festivitäten oder Umzüge zur Feier des Frühlingsbeginns hatte es schon vorher gegeben. Besonders originell ist diesbezüglich die Schilderung eines deutschen Theologen, August Ebrard, der 1845 den inoffiziellen Auftakt des Sechseläutens wie folgt beschrieb: "Schon morgens früh um sechs Uhr liefen Hunderte von "Böhken", d.h. verkleideten Kindern, auf den Strassen umher, strichen Vorübergehende mit einer Bürste, klingelten an Haustüren und liessen sich Schillinge reichen oder hinunterwerfen, wobei sie piepten wie die Vögel. Auch kleine Mädchen gingen paarweise zusammen, einen Kranz und ein mit Bändern geputztes Bäumlein tragend, weissgekleidet, Blumen im Haar, und kamen in die Häuser und sangen." Wie man aus dieser Quelle lesen kann, wurde der Frühling hier mit der ungestümen Kraft der Jugend gefeiert. Ähnliche Verhaltensmuster haben sich bis heute im Halloween oder im Schulsylvester erhalten.

Das Treiben der "Piepvögel" war wohl etwas zu bunt, um zünftig zu sein. Zöiftig war aber sehr wohl der vom Widder-Zünfter Heinrich Cramer organisierte Knabenumzug von 1862. Die Mädchen waren erst beim zweiten Jugendumzug von 1867 dabei. Interessant war in dieser frühen Periode der Umstand, dass nicht nur die Zünfte, beziehungsweise das "Sechseläuten-Central-Comité" als Organisatoren in Erscheinung traten, sondern auch die Nachbarngesellschaft im Kratz-Quartier, der Rennwegverein oder die Quartiervereinigung Selnau. Eine der grossen Attraktionen an den damaligen Kinderumzügen war übrigens die Verbrennung des Bööggs, den man auf einem Wagen mitführte. Besonders wählerisch waren die Kinder und natürlich auch die Organisatoren des Kinderumzugs in der Sujetwahl nicht. Anstelle des Bööggs verbrannte man genau so gerne Figuren aus Märchen und Sagen wie etwa einen Drachen, Reineke Fuchs oder den römischen Kriegsgott Mars. Spielerisch war damals auch die Umzugsplanung, etwa als das Central-Comité drei verschiedene Umzüge in den zentralen Quartieren organisierte. An verschiedenen Orten wurde sodann ein Feuer entfacht: Im Stadelhofen - Quartier wie am Bahnhofplatz, im Selnauquartier und auf dem Kasernenplatz.

Der Umzug wird zöiftig

1896 war es dann (endlich) so weit: Das Central-Comité übernahm den Kinderumzug in eigener Kompetenz. In dieser Pionierphase war der Kinderumzug weniger eng mit der Geschichte und Traditionen der einzelnen Zünfte verbunden, vielmehr enthielt er noch wesentliche Elemente von den damals beliebten Themenumzügen, etwa mit Figuren aus den Märchen der Brüder Grimm. Im Jahr 1905 wurde folgende Impression festgehalten: "Das bekannte Zürcher Festwetter stellte sich nach einigen Zweifeln pünktlich ein. Der Kinderumzug am Morgen nahm den schönsten Verlauf und gewährte Alt und Jung ein ungemeines Vergnügen. Eine Menge von Clowns in allen Farben, Herolde, Krieger usw. eröffneten den Zug, denen drei Berittene in den Landesfarben nachfolgten. Der Wagen mit dem "Böögg", der wirkungsvoll von der grünen Tanne sich abhob, machte viel Spass. Dann hielt der Frühling seinen liebreizenden Einzug mit einer Schar holder Begleiterinnen, und so folgte in bunter Frabenpracht Bild an Bild in verschiedenen Wagen und Gruppen; es war eine recht malerische Augenweide, die man gerne länger festgehalten hätte. Farbenreiche Gestalten aus der Märchenwelt und aus allen Herren Ländern präsentierten sich dem Auge. Unsere kleidsamen Landestrachten kamen sehr gut zur Geltung, die vielen Rotkäppchen waren leiblich anzuschauen; kurz, es war eine Lust, Freude und Wohlgefallen."

Tanz in der Tonhalle

Bis ins Jahre 1920 fand der Kinderumzug weiterhin am Montag Morgen statt. Ziel war fast das gleiche wie heute: in der Tonhalle, wo die Kinder nach dem Umzug eintrafen, waren Wurst, Brot und Tee bereit. Offensichtlich waren die Kinder ausgesprochen fit: Kaum verpflegt, tanzten sie bis gegen Mittag. 1921 wurde der Kinderumzug auf den Sonntag Nachmittag verlegt. Ein Zeitpunkt, der sich bis heute bewährt hat, haben doch namentlich die kleinen Kinder Gelegenheit, sich bis zum Zug der Zünfte am Montag etwas auszuruhen.

In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich der Kinderumzug im Sinne einer Annäherung an das kulturelle Leben der verschiedenen Zünfte weiter. Die Elemente der Themenumzüge konnten sich aber noch viele Jahre halten. Noch 1958 schrieb Edwin Arnet, Chronist der Neuen Zürcher Zeitung: "Auf den Fahnenwald der ehemaligen Nachbargemeinden des alten Zürichs folgt der Tross des Mittelalters mit Herolden, Hofnarren und Edelleuten und dann das Heer der Schweizer Trachten. Nach der schönen Gruppe "Zürcher Zünfte", in der die kleinen Zunftfahnen, die Jungen der wirklichen Fahnen flattern und das aristokratische Zürich andeuten, wird das Märchenbuch aufgeschlagen, und man sieht Trachten aus aller Welt, womit vor allem der Wilde Westen und der Ferne Ostrn gemeint sind." Nicht ganz überzeugt war der Berichterstatter von damals vom Ende des Umzugs: "Und bunt und munter ist immer der Schluss. Das Zugsende pflegt der Papierkorb für alles zu sein, was in den Rubriken Rokoko, Biedermeier, Mittelalter, Trachten usw. nicht unterzubringen ist."

Im Unterschied zu heute, wo der Kinderumzug von einer grossen Equipe von jungen oder sicher junggebliebenen Zünftern und Zünfterinnen, den Chäfern, gelenkt und geleitet wird, dominierte vor fünfzig Jahren an der Umzugsspitze noch das gesetzte Element. NZZ-Autor Arnet schreibt dazu: "Der Umzug der Kinder stellt sich dieses Jahr beim Bürkliplatz auf, in der Höhe des Brunnens von Geisers gezügeltem Stier, eine Art Gleichnis vom Ungestüm der Umzugskinder, die aus allen Kreisen der Stadt und der Bevölkerung eintreffen. Die Umzugsordner, würdige Zunftherren im Cutaway, stellen nun mit 1800 Kleinen einen Umzug zusammen, mit der Lust von Knaben, die auf einer Tischplatte aus Zinnfiguren einen Tross formieren." 1962 organisierte das ZZZ den Kinderumzug als Jubiläumsumzug zum 100. Geburtstag des ersten Knabenumzugs. Über 3500 Kinder nahmen nebst Hunderten von Musikanten und Begleitpersonen am festlichen Zug teil.

Rolls Royce und Palmenwagen

In den kommenden Jahrzehnten war der Kinderumzug immer wieder eine Institution, bei der man ohne weiteres eine Erneuerung wagte, um nicht zu sagen ein Experiment. Eine Zeitlang fuhr gar ein Rolls Royce und einige edle Begleitfahrzeuge an der Spitze des Umzuges, ein Umstand, den der ehemalige ZZZ-Präsident Pit Wyss historisch betrachtet als nicht sinnvoll ansah und deshalb aus dem Umzug entfernte. Wyss berichtete aber, dass einige neue Element des Kinderumzugs später in den Zug der Zünfte aufgenommen wurden, etwa der Kämbel-Wagen mit der Palme.

Der Kinderumzug hat sich mit seiner Offenheit für alle Kinder aus Stadt und Kanton Zürich und mit seiner Integration der ausländischen kulturellen Gruppen als fulminanter Auftakt zum Sechseläuten für die gesamte Bevölkerung etabliert. Früher wurde er nur bei schönem Wetter durchgeführt, wobei die Beflaggung der Kirche St. Peter das Zeichen für die Durchführung war. Heute wird der Umzug bei jedem Wetter durchgeführt. Natürlich drückt man dabei den Kindern (und Chäfern) die Daumen, dass das Wetter mindestens so lange halte, bis alle im Trockenen ihre Zwischenverpflegung einnehmen.